Mathematikerinnen und Mathematiker hatten schon immer relativ gute Berufschancen. Das Diplom eines Jungmathematikers wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch weiterhin in vielen Branchen hoch gehandelt. - Ein Bericht aus dem Berufswahlmagazin ,,abi''.
Wolfgang Henninger von der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung
(ZAV) in Bonn stellt fest: ,,Das Interesse an Mathematikerinnen und
Mathematikern hat deutlich zugenommen.'' Die Offerten kommen
insbesondere aus drei Bereichen: den Versicherungsunternehmen, der
Datenverarbeitungsbranche und aus der Forschung. ,,Etwa drei Viertel
des gesamten Stellenangebots für Mathematiker stammen derzeit aus
diesen Bereichen'', bilanziert der Arbeitsmarktexperte.
Aber auch das Bank- und Kreditgewerbe, die Finanz- und
Personaldienstleister sowie Ämter und Behörden stellen mehr
Mathematiker ein als in den Vorjahren. Hierzu erklärt Wolfgang
Henninger: ,,Hervorragende Chancen haben junge Hochschulabsolventen
mit fundierten Datenverarbeitungskenntnissen, auch wenn sie noch ohne
Berufserfahrung sind.''
Die Mathematik boomt. Im Zuge der digitalen Revolution sind die
Modelle und Methoden der 4000 Jahre alten Wissenschaft in fast alle
Gebiete von Technik, Wirtschaft, Planung und Organisation
eingedrungen. Ein Beispiel: Der Zugang zu einem Bankkonto per
Scheckkarte wird durch einen Kryptographischen Code verschlüsselt,
der auf sehr großen Primzahlen basiert.
Auch fast alle Finanzinstrumente, die heute verwendet werden, sind im
Grunde nichts anderes als mathematische Konstrukte. Ob bei der
Kalkulation einer Versicherungsprämie oder bei der Absicherung von
Währungsrisiken durch Optionsgeschäfte an der Börse -
überall werden mathematische Methoden eingesetzt. ,,Vor allem die
Anwendung der modernen Datenverarbeitung hat für Mathematiker eine
Fülle von neuen Tätigkeitsbereichen und Aufgabenfeldern
geschaffen'', berichtet Mathematikprofessor Dr. Günter Törner. Er
forscht und lehrt an der Universität Duisburg und ist Mitglied des
Präsidiums der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) in Berlin.
,,Immer mehr Mathematiker entwickeln heute Computerprogramme für
Softwarehäuser'', so Professor Törner.
Viele Studierende der Mathematik streben selbstverständlich
weiterhin den Einstieg in die klassischen Einsatzfelder wie Schule,
Hochschule und Versicherungen an, aber sie könnten im Grunde in fast
allen Branchen unterkommen und hier sehr unterschiedliche
Tätigkeiten ausüben.
In den neuen Einsatzfeldern müssen sie sich meist gegen andere
Hochschulabsolventen durchsetzen. Dies zeigt ein kurzer Blick auf den
Stellenteil in den Wochenendausgaben überregionaler Tageszeitungen:
Hier findet der Stellensuchende zahlreiche Anzeigen, die sowohl
Mathematiker als auch Ingenieure direkt ansprechen. Übrigens: An
Offerten, die ausdrücklich an Mathematiker gerichtet sind, zeigen
auch Informatiker Interesse, so dass auch hier eine
Konkurrenzsituation entsteht.
Den größten Bedarf an Jungmathematikern meldet gegenwärtig das
Versicherungs- und Kreditgewerbe an. Mathematisch geschulte
Spezialisten werden hier unter anderem für die Gestaltung
innovativer Finanzprodukte gesucht.
Die rund 800 Versicherungsgesellschaften hierzulande brauchen
Mathematiker vor allem für die Tarifgestaltung. Ihre Aufgabe ist es,
spezielle Versicherungslösungen zu entwickeln und auf der Basis von
Statistiken und Prognosen über Unfälle und Schäden
maßgeschneiderte Tarife und Prämien zu kalkulieren. So müssen
zum Beispiel bei einer Lebensversicherung über Jahrzehnte hinweg
Annahmen über Sterblichkeit, Zinsentwicklung und Kostensteigerung
formuliert werden, um die späteren Leistungen errechnen zu können.
Mathematisches Handwerkszeug hilft dabei, diese schwierigen
Bewertungsfragen zu lösen.
Mit zu den Aufgaben der bei Versicherungen beschäftigten
Mathematiker gehört häufig auch die Kundenbetreuung und zwar von
der Akquisition über die Angebotserstellung bis zur Bestandspflege.
Dass Mathematiker bei Assekuranzunternehmen in der Datenverarbeitung,
in der Verwaltung sowie im Rechnungswesen und inzwischen sogar im
Marketing eingesetzt werden, zeigt deutlich, dass sie mit
Informatikern, Betriebswirten und Juristen sehr gut mithalten
können.
,,Besonders gefragt sind betriebswirtschaftlich orientierte
Mathematiker mit vertieften Kenntnissen der Versicherungsmathematik'',
erklärt Wolfgang Henninger. Der Arbeitsmarktexperte ergänzt:
,,Juristische Zusatzkenntnisse sind bei den Arbeitgebern ebenfalls
sehr willkommen.''
Auch in den über 3500 Banken und Kreditinstituten gehören
Mathematiker zum etablierten Mitarbeiterstamm. Sie sind oft im
Risiko-Management tätig und entwickeln hier anhand spezieller
Softwareprogramme zum Beispiel mathematische Prognosemodelle.
Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewerbung ist hier allerdings,
dass der Kandidat die Risikoberechnungsmethoden souverän beherrscht
und auch Kenntnisse der Geld- und Kapitalmarkttheorie mitbringt.
,,Diesem Anforderungsprofil kommen Neben- und Vertiefungsfächer wie
beispielsweise Betriebswirtschaftslehre, Finanzmathematik und
Informatik stark entgegen'', so Professor Paul-Georg Becker von der
Fachhochschule Stuttgart. Wer sich für diese Einsatzgebiete
qualifizieren will, der kann sich auch in den grundständigen
Studiengängen Finanz- und Wirtschaftsmathematik einschreiben, die an
einigen Universitäten und Fachhochschulen angeboten werden. Das
Studium verknüpft Mathematik, Wirtschaftswissenschaften, Statistik
sowie Informatik und bietet damit eine solide Grundlage für die
berufliche Praxis.
Den Wirtschaftsmathematikern bietet auch die Tätigkeit als Aktuar
interessante Perspektiven. Aktuare sind wissenschaftlich ausgebildete
Experten auf dem Gebiet der Finanz-, Versicherungs- und
Wirtschaftsmathematik. Sie beschäftigen sich mit allen Arten des
Managements finanzieller Risiken. Darunter fallen beispielsweise die
Berechnungen von Versicherungsprämien und Rücklagen genauso wie
die Finanzierungsprobleme der Sozialversicherung oder die Bewertung
verschiedener Finanztitel.
In den angelsächsischen Ländern hat das Berufsbild Aktuar eine
lange Tradition. Es gewinnt jetzt auch in Deutschland zunehmend an
Kontur und Bedeutung. Allerdings bieten bislang nur sehr wenige
Hochschulen dafür geeignete Lehrveranstaltungen an. Eine davon ist
die Fachhochschule Bielefeld.
Um eine Zulassung als Aktuar zu erhalten, sind sechs Prüfungen und
eine dreijährige Berufspraxis nötig. ,,An manchen Hochschulen
können Mathematikstudenten bereits während ihres Studiums einen
Teil dieser Prüfungen ablegen,'' sagt Professor Becker. Weitere
Infos erhalten Interessenten bei der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV)
mit Sitz in Köln.
Mathematik ist nicht gleich Mathematik, was das entsprechende
Studienangebot an den Hochschulen betrifft. Das ganze Spektrum an
mathematischen Studienmöglichkeiten zeigt sich nur an einer
großen Hochschule wie der Technischen Universität (TU)
München. So findet man an dieser TU mittlerweile auch die
Technomathematik. Diese junge Disziplin mit einem hohen physikalischen
und ingenieurwissenschaftlichen Anteil wird auch noch von anderen
Universitäten und darüber hinaus von verschiedenen Fachhochschulen
angeboten.
Die Industrie setzt Technomathematiker meist in Forschungs- und
Entwicklungsabteilungen (FuE) ein. Mit Simulationen auf der Basis
mathematischer Modelle lassen sich nämlich erhebliche Kosten
einsparen. FuE-Aufgaben können nur in engem Kontakt mit Ingenieuren
gelöst werden. Das erfordert von den Mathematikern
ingenieurwissenschaftliche und physikalische Kenntnisse, die sie
freilich auch in einem normalen Mathematikstudium über entsprechende
Schwerpunkte erwerben können.
Super Startchancen für die Jungmathematiker ergeben sich in der
Datenverarbeitung und in der Software-Produktion. Hier betreuen sie
unter anderem Datenverarbeitungssysteme. Sie produzieren
kundenspezifische Software und beraten die Anwender. Wegen der guten
Berufsaussichten in der DV-Branche hat die Technische Universität
Chemnitz gerade die Studienrichtung Mathematik mit vertiefter
Informatikausbildung eingerichtet.
,,Wer in einem Softwarehaus Fuß fassen möchte, muss fundierte
Computer-Kenntnisse mitbringen und sich in Datenbanktechnik und
Netzwerkmanagement auskennen'', skizziert Wolfgang Henninger das
Anforderungsprofil. ,,Die Bewerber sollten mindestens eine
anwendungsorientierte Programmiersprache beherrschen.''
Die Arbeitgeber schauen mit Argusaugen darauf, ob sich ein
Jungmathematiker an seiner Hochschule intensiv mit einem
Anwendungsgebiet auseinandergesetzt hat, das zur vakanten Stelle
passt. Ebenso wichtig aber ist der frühe Kontakt zur Berufswelt.
Durch ein freiwilliges Praktikum oder einen fachbezogenen Nebenjob
können sich Studierende der Mathematik schon frühzeitig eine gute
Ausgangsposition im Rennen um eine attraktive Stelle verschaffen.
Angesichts der zunehmenden internationalen Geschäftsbeziehungen sind
Fremdsprachen und Auslandserfahrungen beim Berufsstart sehr hilfreich.
Englisch ist selbstverständlich. So ist zum Beispiel die neue
Studienrichtung Mathematics with Computer Science an der Technischen
Universität Darmstadt bereits zweisprachig angelegt. Hier finden die
Lehrveranstaltungen des ersten Studienjahrs sogar durchgängig in
Englisch statt.
Ob Bank, Versicherung oder Softwarehaus: Die meisten Unternehmen
machen kaum einen Unterschied zwischen einem Uni- und
FH-Diplomabschluss. Viel wichtiger ist, welche Schwerpunkte im Studium
gesetzt wurden. Die anwendungsbezogene Ausbildung der Mathematiker an
den Fachhochschulen bietet den Studierenden zahlreiche Möglichkeiten
zur Spezialisierung. Das differenzierte Fächerangebot im
Hauptstudium reicht von der Versicherungsmathematik über die
technische Simulationsrechnung bis hin zu Datenbanken und
Expertensystemen.
Die FH-Absolventen kommen vorwiegend in der Privatwirtschaft unter. Wo
aber speziell theoretische Mathematik nachgefragt wird, sind
Universitätsabsolventen eindeutig im Vorteil. Auch viele
Versicherungen stellen für die Risikoanalyse bevorzugt Mathematiker
ein, die an einer Universität studiert haben.
Abgesehen von den Lehramtskandidaten mit dem Fach Mathematik stellt
sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt gegenwärtig so dar: Das
Stellenangebot übersteigt deutlich die Zahl der Absolventen aller
mathematischen Studiengänge. Mit ein Grund für dieses
Ungleichgewicht ist, dass die Zahl der Mathe-Studienanfänger in den
letzten fünf Jahren um fast ein Viertel auf rund 7000 zurückging.
Etwa 25000 Studierende sind derzeit in einem Diplomstudiengang der
Mathematik eingeschrieben. Hinzu addieren muss man noch knapp 5000
angehende Wirtschafts- und Technomathematiker sowie Statistiker.
Weitere 18000 junge Leute, die an den Universitäten studieren,
möchten nach dem Staatsexamen in den Schuldienst, um zum Beispiel an
Gymnasien das Fach Mathematik zu unterrichten.
Der Mangel an Mathematikern ist auch eine Folge der hohen
Anforderungen im Studium, denen viele Studierende nicht genügen.
Jeder dritte bricht dieses Studium während des ersten oder zweiten
Semesters ab. ,,Wer nicht von Anfang an am Ball bleibt, verliert
schnell den Faden '', weiß Professor Becker. Viele Hochschulen
bieten Extra-Kurse für die Studienanfänger an, um sie für die
folgenden Semester fit zu machen. Man sollte hier vor allem dann sein
schulisches Wissen auffrischen, wenn zwischen dem Abitur und der
Studienstart eine längere Zeitspanne liegt.
Dass sich Mathematik bei weitem nicht auf Trigonometrie,
Vektorrechnung, Analysis, Differential- und Integralrechnung im
stillen Kämmerlein beschränkt, zeigt sich zwar schon im Studium,
aber besonders deutlich im Job. Um neue Lösungsansätze zu finden,
wird neben Gründlichkeit, Hartnäckigkeit und Selbstdisziplin vor
allem Kreativität verlangt. Meist sind die Aufgaben in der
Wirtschaft so kompliziert, dass sie von Mathematikern nicht allein
gelöst werden können. Sie müssen daher zwangsläufig mit
anderen Fachleuten kooperieren. ,,Deshalb erwartet die
Privatwirtschaft von den Mathematikern nicht nur fachliche Kenntnisse,
sondern vor allem auch Kommunikationsstärke'', betont Professor
Törner.
Teamfähigkeit, Beratungskompetenz und das Vermögen, sich und seine
Arbeit überzeugend präsentieren zu können, sind im Berufsleben
ein absolutes Muss. Doch noch immer mangelt es vielen Absolventen an
der Bereitschaft, die Dinge nicht nur mathematisch zu betrachten.
,,Der reine Mathematiker ist in der Wirtschaft jedoch nicht mehr
gefragt'', so Professor Törner.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Transmedia Projekt +
Verlagsgesellschaft mbH, Mannheim. Aus Abi Berufswahl-Magazin 1/200.
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