Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 2--2000, Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 2-2000, S. 27ff.

Erwin Single: Ohne Brüche

Mathematikerinnen und Mathematiker hatten schon immer relativ gute Berufschancen. Das Diplom eines Jungmathematikers wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch weiterhin in vielen Branchen hoch gehandelt. - Ein Bericht aus dem Berufswahlmagazin ,,abi''.

Wolfgang Henninger von der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) in Bonn stellt fest: ,,Das Interesse an Mathematikerinnen und Mathematikern hat deutlich zugenommen.'' Die Offerten kommen insbesondere aus drei Bereichen: den Versicherungsunternehmen, der Datenverarbeitungsbranche und aus der Forschung. ,,Etwa drei Viertel des gesamten Stellenangebots für Mathematiker stammen derzeit aus diesen Bereichen'', bilanziert der Arbeitsmarktexperte.

Aber auch das Bank- und Kreditgewerbe, die Finanz- und Personaldienstleister sowie Ämter und Behörden stellen mehr Mathematiker ein als in den Vorjahren. Hierzu erklärt Wolfgang Henninger: ,,Hervorragende Chancen haben junge Hochschulabsolventen mit fundierten Datenverarbeitungskenntnissen, auch wenn sie noch ohne Berufserfahrung sind.''

Die Mathematik boomt. Im Zuge der digitalen Revolution sind die Modelle und Methoden der 4000 Jahre alten Wissenschaft in fast alle Gebiete von Technik, Wirtschaft, Planung und Organisation eingedrungen. Ein Beispiel: Der Zugang zu einem Bankkonto per Scheckkarte wird durch einen Kryptographischen Code verschlüsselt, der auf sehr großen Primzahlen basiert.

Auch fast alle Finanzinstrumente, die heute verwendet werden, sind im Grunde nichts anderes als mathematische Konstrukte. Ob bei der Kalkulation einer Versicherungsprämie oder bei der Absicherung von Währungsrisiken durch Optionsgeschäfte an der Börse - überall werden mathematische Methoden eingesetzt. ,,Vor allem die Anwendung der modernen Datenverarbeitung hat für Mathematiker eine Fülle von neuen Tätigkeitsbereichen und Aufgabenfeldern geschaffen'', berichtet Mathematikprofessor Dr. Günter Törner. Er forscht und lehrt an der Universität Duisburg und ist Mitglied des Präsidiums der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) in Berlin. ,,Immer mehr Mathematiker entwickeln heute Computerprogramme für Softwarehäuser'', so Professor Törner.

Klassische und neue Bereiche

Viele Studierende der Mathematik streben selbstverständlich weiterhin den Einstieg in die klassischen Einsatzfelder wie Schule, Hochschule und Versicherungen an, aber sie könnten im Grunde in fast allen Branchen unterkommen und hier sehr unterschiedliche Tätigkeiten ausüben.

In den neuen Einsatzfeldern müssen sie sich meist gegen andere Hochschulabsolventen durchsetzen. Dies zeigt ein kurzer Blick auf den Stellenteil in den Wochenendausgaben überregionaler Tageszeitungen: Hier findet der Stellensuchende zahlreiche Anzeigen, die sowohl Mathematiker als auch Ingenieure direkt ansprechen. Übrigens: An Offerten, die ausdrücklich an Mathematiker gerichtet sind, zeigen auch Informatiker Interesse, so dass auch hier eine Konkurrenzsituation entsteht.

Den größten Bedarf an Jungmathematikern meldet gegenwärtig das Versicherungs- und Kreditgewerbe an. Mathematisch geschulte Spezialisten werden hier unter anderem für die Gestaltung innovativer Finanzprodukte gesucht.

Die rund 800 Versicherungsgesellschaften hierzulande brauchen Mathematiker vor allem für die Tarifgestaltung. Ihre Aufgabe ist es, spezielle Versicherungslösungen zu entwickeln und auf der Basis von Statistiken und Prognosen über Unfälle und Schäden maßgeschneiderte Tarife und Prämien zu kalkulieren. So müssen zum Beispiel bei einer Lebensversicherung über Jahrzehnte hinweg Annahmen über Sterblichkeit, Zinsentwicklung und Kostensteigerung formuliert werden, um die späteren Leistungen errechnen zu können. Mathematisches Handwerkszeug hilft dabei, diese schwierigen Bewertungsfragen zu lösen.

Mit zu den Aufgaben der bei Versicherungen beschäftigten Mathematiker gehört häufig auch die Kundenbetreuung und zwar von der Akquisition über die Angebotserstellung bis zur Bestandspflege. Dass Mathematiker bei Assekuranzunternehmen in der Datenverarbeitung, in der Verwaltung sowie im Rechnungswesen und inzwischen sogar im Marketing eingesetzt werden, zeigt deutlich, dass sie mit Informatikern, Betriebswirten und Juristen sehr gut mithalten können.

,,Besonders gefragt sind betriebswirtschaftlich orientierte Mathematiker mit vertieften Kenntnissen der Versicherungsmathematik'', erklärt Wolfgang Henninger. Der Arbeitsmarktexperte ergänzt: ,,Juristische Zusatzkenntnisse sind bei den Arbeitgebern ebenfalls sehr willkommen.''

Auch in den über 3500 Banken und Kreditinstituten gehören Mathematiker zum etablierten Mitarbeiterstamm. Sie sind oft im Risiko-Management tätig und entwickeln hier anhand spezieller Softwareprogramme zum Beispiel mathematische Prognosemodelle. Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewerbung ist hier allerdings, dass der Kandidat die Risikoberechnungsmethoden souverän beherrscht und auch Kenntnisse der Geld- und Kapitalmarkttheorie mitbringt.

,,Diesem Anforderungsprofil kommen Neben- und Vertiefungsfächer wie beispielsweise Betriebswirtschaftslehre, Finanzmathematik und Informatik stark entgegen'', so Professor Paul-Georg Becker von der Fachhochschule Stuttgart. Wer sich für diese Einsatzgebiete qualifizieren will, der kann sich auch in den grundständigen Studiengängen Finanz- und Wirtschaftsmathematik einschreiben, die an einigen Universitäten und Fachhochschulen angeboten werden. Das Studium verknüpft Mathematik, Wirtschaftswissenschaften, Statistik sowie Informatik und bietet damit eine solide Grundlage für die berufliche Praxis.

Die Aktuare kommen

Den Wirtschaftsmathematikern bietet auch die Tätigkeit als Aktuar interessante Perspektiven. Aktuare sind wissenschaftlich ausgebildete Experten auf dem Gebiet der Finanz-, Versicherungs- und Wirtschaftsmathematik. Sie beschäftigen sich mit allen Arten des Managements finanzieller Risiken. Darunter fallen beispielsweise die Berechnungen von Versicherungsprämien und Rücklagen genauso wie die Finanzierungsprobleme der Sozialversicherung oder die Bewertung verschiedener Finanztitel.

In den angelsächsischen Ländern hat das Berufsbild Aktuar eine lange Tradition. Es gewinnt jetzt auch in Deutschland zunehmend an Kontur und Bedeutung. Allerdings bieten bislang nur sehr wenige Hochschulen dafür geeignete Lehrveranstaltungen an. Eine davon ist die Fachhochschule Bielefeld.

Um eine Zulassung als Aktuar zu erhalten, sind sechs Prüfungen und eine dreijährige Berufspraxis nötig. ,,An manchen Hochschulen können Mathematikstudenten bereits während ihres Studiums einen Teil dieser Prüfungen ablegen,'' sagt Professor Becker. Weitere Infos erhalten Interessenten bei der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) mit Sitz in Köln.

Weitere Spezialgebiete

Mathematik ist nicht gleich Mathematik, was das entsprechende Studienangebot an den Hochschulen betrifft. Das ganze Spektrum an mathematischen Studienmöglichkeiten zeigt sich nur an einer großen Hochschule wie der Technischen Universität (TU) München. So findet man an dieser TU mittlerweile auch die Technomathematik. Diese junge Disziplin mit einem hohen physikalischen und ingenieurwissenschaftlichen Anteil wird auch noch von anderen Universitäten und darüber hinaus von verschiedenen Fachhochschulen angeboten.

Die Industrie setzt Technomathematiker meist in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen (FuE) ein. Mit Simulationen auf der Basis mathematischer Modelle lassen sich nämlich erhebliche Kosten einsparen. FuE-Aufgaben können nur in engem Kontakt mit Ingenieuren gelöst werden. Das erfordert von den Mathematikern ingenieurwissenschaftliche und physikalische Kenntnisse, die sie freilich auch in einem normalen Mathematikstudium über entsprechende Schwerpunkte erwerben können.

Super Startchancen für die Jungmathematiker ergeben sich in der Datenverarbeitung und in der Software-Produktion. Hier betreuen sie unter anderem Datenverarbeitungssysteme. Sie produzieren kundenspezifische Software und beraten die Anwender. Wegen der guten Berufsaussichten in der DV-Branche hat die Technische Universität Chemnitz gerade die Studienrichtung Mathematik mit vertiefter Informatikausbildung eingerichtet.

Was verlangt wird

,,Wer in einem Softwarehaus Fuß fassen möchte, muss fundierte Computer-Kenntnisse mitbringen und sich in Datenbanktechnik und Netzwerkmanagement auskennen'', skizziert Wolfgang Henninger das Anforderungsprofil. ,,Die Bewerber sollten mindestens eine anwendungsorientierte Programmiersprache beherrschen.''

Die Arbeitgeber schauen mit Argusaugen darauf, ob sich ein Jungmathematiker an seiner Hochschule intensiv mit einem Anwendungsgebiet auseinandergesetzt hat, das zur vakanten Stelle passt. Ebenso wichtig aber ist der frühe Kontakt zur Berufswelt. Durch ein freiwilliges Praktikum oder einen fachbezogenen Nebenjob können sich Studierende der Mathematik schon frühzeitig eine gute Ausgangsposition im Rennen um eine attraktive Stelle verschaffen.

Angesichts der zunehmenden internationalen Geschäftsbeziehungen sind Fremdsprachen und Auslandserfahrungen beim Berufsstart sehr hilfreich. Englisch ist selbstverständlich. So ist zum Beispiel die neue Studienrichtung Mathematics with Computer Science an der Technischen Universität Darmstadt bereits zweisprachig angelegt. Hier finden die Lehrveranstaltungen des ersten Studienjahrs sogar durchgängig in Englisch statt.

Ob Bank, Versicherung oder Softwarehaus: Die meisten Unternehmen machen kaum einen Unterschied zwischen einem Uni- und FH-Diplomabschluss. Viel wichtiger ist, welche Schwerpunkte im Studium gesetzt wurden. Die anwendungsbezogene Ausbildung der Mathematiker an den Fachhochschulen bietet den Studierenden zahlreiche Möglichkeiten zur Spezialisierung.                  Das differenzierte Fächerangebot im Hauptstudium reicht von der Versicherungsmathematik über die technische Simulationsrechnung bis hin zu Datenbanken und Expertensystemen.

Die FH-Absolventen kommen vorwiegend in der Privatwirtschaft unter. Wo aber speziell theoretische Mathematik nachgefragt wird, sind Universitätsabsolventen eindeutig im Vorteil. Auch viele Versicherungen stellen für die Risikoanalyse bevorzugt Mathematiker ein, die an einer Universität studiert haben.

Kreativität und Teamwork

Abgesehen von den Lehramtskandidaten mit dem Fach Mathematik stellt sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt gegenwärtig so dar: Das Stellenangebot übersteigt deutlich die Zahl der Absolventen aller mathematischen Studiengänge. Mit ein Grund für dieses Ungleichgewicht ist, dass die Zahl der Mathe-Studienanfänger in den letzten fünf Jahren um fast ein Viertel auf rund 7000 zurückging. Etwa 25000 Studierende sind derzeit in einem Diplomstudiengang der Mathematik eingeschrieben. Hinzu addieren muss man noch knapp 5000 angehende Wirtschafts- und Technomathematiker sowie Statistiker. Weitere 18000 junge Leute, die an den Universitäten studieren, möchten nach dem Staatsexamen in den Schuldienst, um zum Beispiel an Gymnasien das Fach Mathematik zu unterrichten.

Der Mangel an Mathematikern ist auch eine Folge der hohen Anforderungen im Studium, denen viele Studierende nicht genügen. Jeder dritte bricht dieses Studium während des ersten oder zweiten Semesters ab. ,,Wer nicht von Anfang an am Ball bleibt, verliert schnell den Faden '', weiß Professor Becker. Viele Hochschulen bieten Extra-Kurse für die Studienanfänger an, um sie für die folgenden Semester fit zu machen. Man sollte hier vor allem dann sein schulisches Wissen auffrischen, wenn zwischen dem Abitur und der Studienstart eine längere Zeitspanne liegt.

Dass sich Mathematik bei weitem nicht auf Trigonometrie, Vektorrechnung, Analysis, Differential- und Integralrechnung im stillen Kämmerlein beschränkt, zeigt sich zwar schon im Studium, aber besonders deutlich im Job. Um neue Lösungsansätze zu finden, wird neben Gründlichkeit, Hartnäckigkeit und Selbstdisziplin vor allem Kreativität verlangt. Meist sind die Aufgaben in der Wirtschaft so kompliziert, dass sie von Mathematikern nicht allein gelöst werden können. Sie müssen daher zwangsläufig mit anderen Fachleuten kooperieren. ,,Deshalb erwartet die Privatwirtschaft von den Mathematikern nicht nur fachliche Kenntnisse, sondern vor allem auch Kommunikationsstärke'', betont Professor Törner.

Teamfähigkeit, Beratungskompetenz und das Vermögen, sich und seine Arbeit überzeugend präsentieren zu können, sind im Berufsleben ein absolutes Muss. Doch noch immer mangelt es vielen Absolventen an der Bereitschaft, die Dinge nicht nur mathematisch zu betrachten. ,,Der reine Mathematiker ist in der Wirtschaft jedoch nicht mehr gefragt'', so Professor Törner.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Transmedia Projekt + Verlagsgesellschaft mbH, Mannheim. Aus Abi Berufswahl-Magazin 1/200.


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On 7 Jun 2000, 18:50.